P. Martin Berlioux
Jean le Charlier de [Johannes] Gerson (1363–1429), Kanzler der Universität von Paris, der sich durch seine Tugenden ebenso wie seine Beredsamkeit auszeichnete, berichtet in einem seiner Werke, dass eine arme Mutter, die von ihrem Kind seit langem vergessen worden war, von Gott die Erlaubnis erhielt, ihm zu erscheinen, um ihm von ihrem Kummer zu erzählen und um Gebete zu bitten.
– „Mein Sohn“, rief sie, „mein lieber Sohn! Denk ein wenig an deine arme Mutter, die so viel leidet. Denk an die schrecklichen Qualen, in denen die Gerechtigkeit Gottes mich die Verfehlungen meines sterblichen Lebens sühnen lässt.
– Am unerträglichsten von allen ist die Reue, das Bedauern, dass ich Gott, der mir so viele Gnaden geschenkt hat, so wenig geliebt habe. Wie konnte ich nur einen so großen, heiligen, gerechten, allwissenden Gott, einen so zärtlichen Vater und großzügigen Wohltäter beleidigen?!
– Ach, dieser Gedanke überwältigt mich und tötet mich jeden Augenblick; dieser nagende Wurm ist wie ein scharfer Dolch, der mich durchbohrt, ohne mir den Tod bringen zu können, der mich Tag und Nacht quält und mir blutige Tränen entlockt.
– Dennoch muss ich immer wie der an meine Brust klopfend ausrufen: ‚Mein Gott, Du bist gerecht und fair. Wenn ich grausam leide, so ist es meine Schuld, meine allergrößte Schuld!‘ O mein Sohn, wenn du mich noch liebst, dann habe Mitleid mit mir, reiß diesen Dolch heraus, befreie mich von diesem nagenden Wurm, öffne mir den Himmel. Ich bitte dich noch einmal, mein liebes Kind, Gott besser zu dienen als deine Mutter und mit Reue im Herzen zu sterben!“
Getreu diesen Warnungen betete das Kind viel für seine Mutter und starb selbst in Heiligkeit.