Mit Vernunft zur Erkenntnis des Fegefeuers

Unsere Vernunft

P. Martin Berlioux

In Übereinstimmung mit dem Glauben verkündet auch die Vernunft die Existenz des Fegefeuers; ihre Stimme spricht zu uns wie die Kirche und die Heilige Schrift. Sie sagt uns zunächst, dass Gott, da er die Heiligkeit selbst ist, nichts Unreines in sein Reich eintreten lassen kann; dass es eine ewige, unüberwindliche Abstoßung zwischen auch nur dem geringsten Übel und dem Guten schlechthin gibt und dass eine Seele, selbst wenn sie nur mit einem leichten Makel befleckt ist, unwürdig ist, sich mit Ihm zu vereinen, solange sie nicht vollkommen gereinigt ist.

Denn sie würde die Sünde sonst erstmalig in den Himmel bringen. „Herr“, ruft der Prophetenkönig David, „wer darf Gast sein in Deinem Zelt? Wer darf wohnen auf Deinem heiligen Berg? Wer makellos wandelt und Rechtes tut und Wahrheit in seinem Herzen pflegt“ (Ps 15/14,1-2). Der allein also, der ohne Sünde ist und die Vollkommenheit der Gerechtigkeit besitzt.

Die Vernunft sagt uns auch, dass Gott, da Er unendlich gerecht ist, Wiedergutmachung verlangt. Er kann ebenso wenig die geringste Sünde ohne Reinigung belassen, wie Er die geringste Tugendtat ohne Belohnung lassen kann. Wer also seine Fehler in dieser Welt nicht wiedergutmacht, wird sie unfehlbar in der nächsten abbüßen. Die Genugtuung, die wir der Gerechtigkeit Gottes in diesem Leben nicht geleistet haben, wird die Gerechtigkeit Gottes sich nach unserem Tod selbst leisten. Und wo wird dies stattfinden? Im Fegefeuer.

Beweisen wir unseren Glauben an das Dogma des Fegefeuers durch zärtliche Liebe zu den Seelen, die seine Härten erleiden, und indem wir auch leichte Fehler vermeiden, die uns selbst dorthin führen können. Wer gerecht ist, der werde noch gerechter, und wer heilig ist, der werde noch heiliger!

Unser Herz

„Es gibt kein katholisches Dogma (…), das nicht seine Wurzeln in den tiefsten Tiefen der menschlichen Natur [also des Herzens] hätte“, sagte Joseph de Maistre (1753–1821). Aus diesem Grund neigen wir von Natur aus dazu, bestimmte offenbarte Wahrheiten anzunehmen. Zu diesen gehört auch das Fegefeuer. Sogar die Gottlosen, die jedem Glauben und allen religiösen Gefühlen abgeschworen haben, geben aufrichtig zu, dass sie unter ernsten Umständen die heimlichen Gebete, die ihrem Herzen für die Menschen entspringen, mit denen sie durch zarte Bande eng verbunden sind, nicht zurückhalten können. Dies ist ein klarer Beweis dafür, dass es sich hierbei um ein Gefühl handelt, das durch den Finger Gottes in das Herz des Menschen eingeprägt wurde. Daher findet man es in allen Ländern und bei allen Völkern der Welt.

Was gibt es tatsächlich, das dem Herzen süßer ist als dieser Glaube und diese fromme Andacht, die uns mit dem Gedenken und dem Leiden der Verstorbenen verbinden? Ja, wir müssen glauben, dass es jenseits der Ufer der Zeit einen Ort der Sühne gibt, der nicht die Hölle ist, sondern der Weg zum Himmel. Wir haben allen Anlass zu glauben und wir müssen glauben, dass unsere Verwandten und Freunde, die dort im Gefängnis sitzen, durch unsere Gebete und guten Werke Erleichterung erfahren, dass sie uns sehen und hören. Wir müssen daran glauben, dass auch wir eines Tages darin Erleichterung erfahren werden. Dieser Gedanke ist süß und tröstlich.

P. Martin Berlioux — Die Armen Seelen im Fegefeuer

Foto: By Lameiro – Own work, CC BY-SA 4.0